Von der Abschlussprüfung zur Forensik: Wirtschaftskriminalität vorbeugen, erkennen und aufdecken
Wirecard, P&R, Steinhoff und Flowtex – die Liste von Unternehmenszusammenbrüchen wird immer länger. Weltweit sorgen Bilanzskandale nicht nur für Schlagzeilen, sie befeuern auch die Debatte über die Rolle und Verantwortung der Wirtschaftsprüfung. Hätten die Ursachen dieser Skandale – sogenannte „Schemes“ – im Rahmen der Abschlussprüfung nicht schon viel früher erkannt werden müssen? Hätten die Prüfer*innen den Betrug im großen Stil verhindern können?
Grundsätzlich sind Abschlussprüfer*innen dafür verantwortlich, mit hinreichender Sicherheit festzustellen, dass der Jahresabschluss als Ganzes frei von wesentlichen Fehlaussagen ist. Sie sind gemäß dem „International Standard on Auditing“ ISA (DE) 240 darüber hinaus verpflichtet, während der Prüfung eine kritische Grundhaltung zu wahren sowie entsprechende Prüfungshandlungen zur Risikobeurteilung zu definieren.
Mind the Gap
Es gibt aber auch eine Erwartungslücke, was Prüfer*innen im Rahmen der Jahresabschlussprüfung effektiv leisten können/müssen und was von der Öffentlichkeit erwartet bzw. gefordert wird. Gemäß IAASB kann man diese Erwartungslücke in drei Komponenten unterteilen: die „Wissenslücke“, die „Leistungslücke“ und die „Entwicklungslücke“.
Die allgemeine Öffentlichkeit unterliegt der Annahme, die Aufgabe von Prüfer*innen sei die Aufdeckung von Betrug, einschließlich immateriellen Betruges. Dabei ist vielen Stakeholdern wie Anleger*innen, Behörden und Medien oftmals nicht bewusst, wie stark das Thema Abschlussprüfung gerade in den vergangenen Jahren an Komplexität gewonnen hat. Nebst tiefen Branchenkenntnissen ist ein detailliertes Verständnis zum jeweiligen Geschäftsmodell und der Struktur des Unternehmens notwendig geworden. Gerade bei Unternehmen, die ein hohes Transaktionsvolumen in einer Vielzahl von Jurisdiktionen mit weltweit verstreuten Geschäftspartner*innen haben, ist die Identifikation systemrelevanter Risiken hochkomplex: Mit den Prüfungstätigkeiten im Standard können diese unentdeckt bleiben (z. B. im Fall Wirecard).
Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass es vornehmlich die Aufgabe des Managements ist, ein effektives, d. h. auf den individuellen Risiken des Unternehmens basierendes Fraud- und Compliance-Management-System und Internes Kontrollsystem (IKS) zu implementieren, um insbesondere systemische dolose Handlungen (nach lateinisch dolosus für „arglistig“, „trügerisch“) zu identifizieren bzw. zu verhindern. Weithin akzeptiert ist die Erkenntnis, dass die Unternehmenskultur bzw. der „Tone at/from the Top“ einen wesentlichen Einfluss hat, wenn es darum geht, die Wahrscheinlichkeit systemischer Fehlverhalten zu vermeiden. Daher scheint es unerlässlich, auch die Integrität des Managements bzw. der für die Überwachung verantwortlichen Personen seitens der Abschlussprüfer*innen kritisch zu hinterfragen.
Sobald den Prüfer*innen konkrete Anhaltspunkte zu möglichen dolosen Handlungen vorliegen bzw. Zweifel an der Integrität des Managements bestehen, sind vertiefte, gegebenenfalls forensische Prüfungshandlungen dringend zu empfehlen.
Merkmale großer Wirtschaftsskandale
Nahezu alle großen Wirtschaftsskandale eint der Umstand, dass es sich um nachhaltige Strukturen handelt, die über viele Jahre aufgebaut wurden und bei denen Mitglieder des mittleren und des Topmanagements involviert waren oder zumindest die offensichtlichen „Red Flags“ ignorierten. Beispielhaft sei hier die systematische und teilweise weltweite Bereitstellung von „schwarzen Kassen“ bei deutschen DAX-Konzernen genannt, über die zur Erlangung von Aufträgen Korruptionszahlungen auch an Amtsträger*innen getätigt wurden. Auch die Fiktion von werthaltigen Vermögensgegenständen in der Bilanz (z. B. bei Flowtex oder P&R) oder eine langanhaltende Erfolgsstory basierend auf Scheinumsätzen (siehe Wirecard) erfolgte systematisch über viele Perioden mit einer hohen kriminellen Energie und Akribie.
Diese Fälle von Wirtschaftskriminalität sind sehr schwer durch Standard-Auditverfahren zu erkennen. Hier bedarf es einer gewissen Erfahrung im Fraud Management und tiefergehender, forensischer Prüfansätze. In Abhängigkeit bestimmter Indikatoren (Art des Geschäftsmodells, regionale Ausrichtung, Branche, Kundenstruktur etc.) oder der bereits angesprochenen Zweifel an der Integrität des Managements ist zu empfehlen, risikobasierte Präventivuntersuchungen durch erfahrene Forensiker*innen im Rahmen der Jahresabschlussprüfung einzubauen.
Bedeutung von Forensik
Eine forensische Prüfung (oder Untersuchung) ist eine Untersuchung, in der eine Hypothese zur Substantiierung einer Unregelmäßigkeit validiert wird. Hier unterscheidet sich auch die Arbeit von Forensiker*innen und Abschlussprüfer*innen. Während Letztere grundsätzlich von der Ordnungsmäßigkeit des Untersuchungsgegenstandes ausgehen, basiert die Arbeit der Forensiker*innen auf der Hypothese einer Unregelmäßigkeit, abgeleitet von Verdachtsmomenten, die sich beispielsweise auf Informationen durch Whistleblower, Ergebnisse aus internen Revisionen oder Risikoanalysen stützen. In Abhängigkeit dieser Hypothese werden Finanzdaten, Finanzunterlagen, (un-)strukturierte Daten, Korrespondenzen usw. analysiert sowie Mitarbeiter*innen, Geschäftspartner*innen oder Dritte interviewt. Dieses sogenannte „Fact-Finding“, also das Zusammentragen aller relevanten Informationen, dient als Grundlage zur rechtlichen Würdigung und kann bei Bedarf vor Gericht verwendet werden.
Forensische Leistungen im Überblick
Mit welchen konkreten forensischen Leistungen kann die Abschlussprüfung unterstützt werden? Eine zielführende Aufklärung mutmaßlichen Fehlverhaltens bzw. systematischer Anomalien in den Geschäftsbüchern bedarf verschiedener Kompetenzen und Methoden, die je nach Einzelfall miteinander zu kombinieren sind:
Forensic Accounting: Vertiefte Analyse zur Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung (Geschäftsvorfälle und Transaktionen)
Forensische Interviews: Informationsgewinnung durch die Befragungen ausgewählter Mitarbeiter*innen zu einem besonderen Sachverhalt
IT-gestützte Datenanalyse: Erhebung, Verarbeitung und Analyse strukturierter sowie unstrukturierter Daten (insbesondere E-Mails und Textdateien) durch forensische Tools
IT-Forensik: Rekonstruktion gelöschter Daten, Öffnen von passwortgeschützten Dokumenten oder Nachweis von Datenmanipulation
Open Source Intelligence: Informationsgewinnung aus externen Quellen, die insbesondere der Aufklärung persönlicher und geschäftlicher Netzwerke des in Verdacht stehenden Täterkreises dient
Good Corporate Governance
Auch wenn weiterführende forensische Untersuchungshandlungen im Rahmen einer Abschlussprüfung eine Aufdeckung aller dolosen Handlungen nicht garantieren können, so erhöhen sie signifikant die Wahrscheinlichkeit zur Identifikation systematischer doloser Strukturen. Sie dokumentieren auch die vom Management gelebte Sorgfaltspflicht und reduzieren damit Risiken, die mit Verantwortlichkeitsklagen einhergehen können. Für die bereits erwähnten Stakeholder kann die Tätigkeit der Forensiker*innen ein zusätzlicher Faktor für eine Good Corporate Governance sein.
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Autorin: Susanna Grunert war bis Februar 2023 Managerin im Bereich Forensic und Investigation Services bei Mazars.
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